Cyberpsychologin Catarina Katzer

„Mobber empfinden ihr Verhalten nicht als unrecht“

Von Andrea Müller
Veröffentlicht am 17.04.2025Lesedauer: 7 Minuten
Katzer
„Das Netz verändert uns“: Cyberpsychologin Catarina KatzerQuelle: Katzer

In der Netflix-Serie „Adolescence“ wird ein Jugendlicher im Netz radikalisiert. Cyberpsychologin Catarina Katzer erklärt, wie digitale Räume Hass und Gewalt befeuern – und was getan werden müsste, um Opfer von Cybermobbing besser zu schützen.

Die britische Serie „Adolescence“, die aktuell auf Netflix in 79 Ländern die Charts anführt, erzählt von einem 13-jährigen Jungen, der ein Mädchen mit sieben Messerstichen tötet – und von den Einflüssen, denen Jugendliche heute in sozialen Netzwerken begegnen. Auch das Versagen des Schulsystems sowie die Rolle kontroverser Influencer wie Andrew Tate stehen im Fokus. Die Serie beleuchtet, wie sich männliche Wut und Identitätssuche im digitalen Raum entwickeln können – ein Thema, mit dem sich auch die Psychologin und Cybermobbing-Expertin Catarina Katzer intensiv beschäftigt. Sie verweist auf eine aktuelle Studie der Dublin City University: Danach wird jeder Junge zwischen 16 und 20 auf TikTok nach spätestens 9 Minuten mit frauenfeindlichen Videos konfrontiert.

WELT: Frau Katzer, digitale Gewalt wird häufiger thematisiert. Welche Entwicklungen beobachten Sie?

Katzer: Tatsächlich werden Wutbürger im Netz immer zahlreicher, je anonymer, desto schlimmer, denn dort findet eine Art Entkörperlichung statt. Menschen verlieren ihr Empathie Empfinden für das, was sie anderen antun, aber auch für das eigene grenzüberschreitende Verhalten. Hinzu kommt, dass Menschen nicht nur vom Analogen geprägt werden. Das Netz selbst und das Interagieren mit dem Netz verändert uns, wir lernen immer mehr konkretes Verhalten im digitalen Raum – auch Hass und Hetze.

WELT: Ab wann spricht man denn von einer Straftat, von „digitaler Gewalt“?

Katzer: Etwa Bedrohungen, Nötigungen, Erpressungen, Stalking sind Straftaten nach dem Strafgesetzbuch. Der letzte Trend ist das sogenannte „Doxxing“, wenn persönliche Daten veröffentlicht werden. Adressen, Arztbriefe oder Kreditkartennummern oder die Kita, die das Kind besucht, werden im Netz öffentlich gemacht. Wenn einem das passiert, fühlt man sich nackt und hilflos. Es passiert, wenn jemand sich (etwa an einem Ex-Partner) rächen möchte, wenn politische Ziele oder Ideen einer Person diskreditiert werden sollen.

WELT: Gibt es in Deutschland ein Gesetz gegen „Cybermobbing“?

Katzer: Nein. Zwar sind Lügen, Verleumdungen, peinliche Fotos oder Fakes Straftaten. Doch die Polizei ist immer noch nicht ausreichend auf Mobbing im Netz trainiert. Die meisten Täter sind anonym, und können nicht erfasst werden. Häufig wird auch gesagt, es ist ja noch kein Straftatbestand, kann man nicht anders mit denen umgehen? Es ist eine schwammige Angelegenheit, die Strafverfolgung ist kompliziert, auch wegen fehlender Verbindungsdaten. Oft sind sie nicht nachvollziehbar.

WELT: Warum nicht?

Katzer: Es gibt Cybercrime Abteilungen bei der Polizei, die sich damit befassen. Doch sie sind auch abhängig von Telekommunikations-Anbietern. Viele Anzeigen werden zu spät erstattet, was wiederum dazu führt, dass Daten verloren gehen.

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WELT: Man hört oft von Frauen, die wegen digitaler Beleidigung zur Polizei gehen – die dann ohne Ergebnis die Polizeiwache verlassen. Wo ist das Problem?

Katzer: Beleidigung ist ein Straftatbestand, damit hat man das Recht, zur Polizei zu gehen. Die entscheiden dann: ist es eine Bagatelle oder ist es keine? Kraftausdrücke oder Aufrufe zu Vergewaltigungen überschreiten Grenzen, sind aber mittlerweile im Netz zur Normalität geworden.

Die Verfolgung muss strenger geahndet werden, es müssen klare Gesetze auf den Weg gebracht werden. Kein einziger Paragraf in Deutschland befasst sich damit, die Opfer werden alleine gelassen. Auch in großen Unternehmen wird Cybermobbing nicht an die große Glocke gehängt, weil es schlecht für ihr Image ist. Dabei bezeichnen sich rund 15 Prozent der betroffenen erwachsenen Opfer als suizidgefährdet.

WELT: Warum haben Mädchen und Frauen ein dreimal höheres Risiko, zu Opfern zu werden als Männer?

Katzer: Frauen sind zum einen eher bereit, sich als Opfer zu bezeichnen, Männer bzw. Jungs versuchen das eher zu verdrängen und sehen sich ungern als Opfer. Das kann bei jungen Männern wieder in Aggressionen umschlagen, weil sie sich wehren wollen.

Gleichzeitig bieten Frauen über ihre Mitteilsamkeit und Offenheit in sozialen Netzwerken mehr Angriffsfläche für Hater und Cybermobber.

WELT: Welche Rolle spielen politische oder feministische Positionen bei digitalem Hass?

Katzer: Einige Männer fühlen sich vom Feminismus der 2010er-Jahre bedroht. In einem Forschungsprojekt der Dublin City University heißt es, dass jeder zweite junge Mann zwischen 16 und 24 Feminismus als Bedrohung empfindet. Die Geschlechterforschung kennt den Aspekt der prekären Männlichkeit: Schwäche gilt als Stigma. Dieses Gefühl scheint sich in Krisenzeiten zu verstärken und bildet psychologisch gesehen den Nährboden für Incels, Maskulinisten und alle weiteren toxischen Männlichkeitsfirmierungen die sich als Männerrechtler bezeichnen.

WELT: Warum finden bestimmte männliche Influencer wie Andrew Tate bei vielen Jugendlichen so großen Anklang?

Katzer: Viele patriarchalische Gesellschaftsstrukturen geben es so vor. Das Hauptmotiv hinter digitalem Mobbing gegen Frauen ist immer, dass die Gemobbten es verdient haben. Daneben spielen aber auch Spaß und Langweile eine Rolle. Mobber empfinden ihr Verhalten nicht als unrecht. Machohaftes, rüpelhaftes Verhalten, das sich gegen Mädchen richtetet, ist für Mobber auf Social Media total normal geworden.

WELT: Wissen Eltern von heute eigentlich, wie sehr ein Instagram-Profil zur Beliebtheitsskala in der Schule beiträgt?

Katzer: Eltern gehen eher davon aus, dass sie selbst, Lehrer, Nachbarn, Freunde und das direkte Umfeld die Sozialisation ihrer Kinder prägen. Doch heute hat die digitale Welt einen viel größeren Einfluss auf Jugendliche. So bestimmen virtuelle Cybergroups was Jungs denken, wie sie fühlen und handeln sollen. Wenn du heute Jugendliche fragst, wie sie sich in bestimmten Momenten verhalten, gucken sie bei Google nach, anstatt ihre Eltern zu fragen. Suchen sie bei Google etwa „Feminismus“, führen Algorithmen sie sehr schnell auf die falsche Spur und falsche Werte.

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WELT: Welche Formen nimmt digitaler Hass gegenüber Frauen besonders häufig an – und warum?

Katzer: Bei Männern spielt in der sexuellen Entwicklung ab der Pubertät das Thema „Macht“ eine andere Rolle als bei Frauen. Männer, die sich an Frauen auf sexistische Weise vergehen, kompensieren häufig Schwäche. Sie fühlen sich oft als Verlierer im echten Leben, als Menschen, die die Kontrolle über ihr eigenes Leben verloren haben. Sexuelle Stigmatisierung ist seit jeher eine Dominanzstrategie eines unzufriedenen Mannes.

WELT: Aus welchen sozialen oder kulturellen Prägungen speist sich das Weltbild mancher Influencer?

Katzer: Es kommt nicht nur aus der politischen Ecke, sondern auch von muslimischen und anderen patriarchalen, in Deutschland etablierten, religiösen Strömungen, in denen dominante Männlichkeit das Weltbild prägt. Sie haben Zulauf, weil sie mit Angst arbeiten.

WELT: Ist es realistisch, dass wie in „Adolescence“ vor allem der digital geschürte Frauenhass der Incels zum Problem wird?

Katzer: Da ein Viertel der Jugendlichen, die von Cybermobbing betroffen sind, Suizidgedanken haben, stehen wir vor einem absolut realistischen Problem. Auch wenn der virtuelle Raum vielen immer noch vorkommt wie etwas Surreales.

„Adolescence“ zeichnet ein realistisches Szenario, das unmittelbar mit dem Einfluss von Manfluencern, eben Leuten wie Andrew Tate an britischen Schulen zu tun hat. Die fatalen Auswirkungen werden ins „real life“ übertragen. Bedenklich wirkt sich vor allem der Einfluss durch TikTok Influencer aus, laut der Studie der Dublin City University werden dort Werte der modernen Gesellschaft schlicht ausgeklammert.

Aber auch rein digitales Mobbing ist schmerzhaft: denn digital sieht mich etwa jeder schielend auf einer Feier, wo ich zu viel getrunken habe – und nicht nur diejenigen, die auch dort waren. Die Opfer entwickeln starke Paranoia, weil sie nicht wissen, wer dahintersteckt: ein Kollege, Mitschüler, der Ex? Auch diese Tatsache wirkt sich dann wiederum auf das Verhalten im echten Leben aus....

WELT: Es gibt keine Erhebungen, wie viele der aggressiven, virtuellen (meist anonymen) Androhungen später zu Taten werden?

Katzer: Nein, aber das Problem ist eben, dass Hater anonym ungestört um sich schlagen können, einfach um Aggressionen abzubauen, man kann sich gut verstecken in der anonymen Bubble am Schreibtisch, hinter dem Laptop. Eine Klarnamenpflicht bei Kommentierungen aller Art könnte Menschen zur Vernunft bringen. Hater sollten nichts schreiben, was sie mit Klarnamen nicht auch schreiben würden. Sollen sie doch zu ihrer Meinung stehen. Es ist nicht fair, anonym gegen Nicht-Anonyme digital zu ätzen. Eine allgemeine Klarnamen Forderung ist angesagt. Es gibt ja sogar Cybermobbing Kartelle, die Menschen über vielfältige Tricks in einem Wettbewerb nur zum Spaß fertig machen und zerstören wollen.

WELT: Was kann man ändern, damit generell Hass im Internet, egal ob gegen Männer oder Frauen nicht überhandnimmt?

Katzer: Technologie könnte ein sinnvoller Schritt sein, Tools, wie z.B. PopUps, wo durch KI zusammengefasst wird, was du als Kommentator gerade tust. Das ist eine Art digitaler Spiegel, der dir das eigene Handeln vorführt. Ein digitales Stoppschild, das mehrere Mechanismen auslöst und Menschen zum Nachdenken bringt, ehe sie ihre blinde Wut in die digitale Welt hinausposaunen – und das versehentlich für Meinungsfreiheit halten.


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