Artikeltyp:MeinungKolumne: Meine Woche

Kleines Wunder an der Moldau

Von Gernot Facius
Veröffentlicht am 10.11.2008Lesedauer: 2 Minuten

Tschechien, so ist immer zu hören, sei eine „gottlose“ Region, eine religiöse Wüste. Doch in diesen Tagen stößt man auf volle Kirchen. In Prag entdecken die Akademiker den Glauben und strömen in die Kirchen.

Prag, wieder einmal Prag. Eine Wanderung durch die verwinkelten Gassen gleicht einer Exkursion in eine magische oder mystische Stadt – erst recht im Totenmonat November. Das Gold der Türme und Kuppeln, das Gold der Macht erscheint nicht unberührt vom Schwarz des Leidens, und gelitten haben hier viele: Ein für allemal zerstört ist das Jahrhunderte lange Neben- und Miteinander von Tschechen, Deutschen und Juden. Hier wüteten nach 1939 die braunen Schergen, und im Mai 1945 hingen Deutsche als lebende Fackeln an den Laternenpfählen, wahllos hingemordet von einem entfesselten tschechischen Mob. Davon wissen und erfahren die Touristen wenig, die sich täglich zu Zigtausenden über die Karlsbrücke, das Werk des genialen Baumeisters Peter Parler aus Schwäbisch Gmünd, wälzen.

Ich befolge den Rat des alten Pragers Peter Demetz, der in den USA Literaturwissenschaft lehrte, gehe Moldau-aufwärts zum Vysehrad, dem nach dem Hradschin zweiten Burgberg. Auf seinem Friedhof liegen die großen Söhne und Töchter des Landes, Anton Dvorak und Friedrich Smetana zum Beispiel, Bozena Nemzova, die Begründerin moderner tschechischer Prosa, und gleich am Eingang der Feuilletonist Jan Neruda, dessen Grab mit frischen Rosen geschmückt ist. Und ich tauche später, am Abend, ein in das Viertel rund um den Altstädter Ring mit seinen Barockkirchen. Tschechien, so ist immer zu hören, sei eine „gottlose“ Region, eine religiöse Wüste. In diesen Tagen stößt man aber auf volle Kirchen, auffallend viele Gottesdienstbesucher sind jung, die Generation 50 plus ist spärlich vertreten. Nur eine Momentaufnahme oder doch ein kleines Wunder?

Man muss bei Thomas Halik, dem katholischen Theologen und Soziologen, nachschlagen. Der Geistliche, der einst als Nachfolger des Dichterpräsidenten Vaclav Havel im Gespräch war, konstatiert eine wachsende Begeisterung für die ethischen und sozialen Aspekte des Glaubens. Vor allem aus dem akademischen Milieu kommt ein Strom von Menschen, die sich taufen lassen. Halik spricht von einer „schüchternen, verborgenen Frömmigkeit“. Er hofft, dass sie eines Tages dazu beiträgt, die tschechische Gesellschaft zu stabilisieren. Denn die samtene Revolution von 1989 habe erst dann gesiegt, wenn die seelischen Deformationen der Vergangenheit überwunden sind.


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